Corona und unsere Psyche

Gedanken zu Auswirkungen von corona auf unsere psyche

Die Corona-Pandemie beherrscht seit nunmehr zwei Jahren die Schlagzeilen und unser Leben. Die vierte Welle hat uns voll im Griff und verschärft eine zunehmend unversöhnliche und aggressive Stimmung insbesondere zwischen Menschen, die sich gegen COVID-19 haben impfen lassen und solchen, die das (bisher) nicht möchten. Nach dieser langen Zeit im mehr oder minder akuten Stresszustand, sind Auswirkungen von Corona auf unsere Psyche, unsere Gedanken und unser Verhalten kaum zu vermeiden: Wir erleben ein erhebliches Ausmaß an Unsicherheit, Sorgen, Stress, Ängsten, Spaltung und Isolation auf allen Ebenen: gesellschaftlich, sozial, persönlich, emotional und psychisch.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass Ergebnisse des Gemeinschaftsprojekts „Cosmo COVID 19 Snapshot Monitoring“ zeigen, dass die psychische Belastung in Deutschland insgesamt zunimmt, was sich unter anderem in einer steigenden Angespanntheit und auch Niedergeschlagenheit äußert.

Corona beeinflusst unsere psyche und unsere psyche beeinflusst unseren umgang mit corona

Ich möchte in diesem kurzen Beitrag einige – v.a. psychodynamisch geprägte – Gedanken teilen, wie sich die pandemische Lage auf unser psychisches und emotionales Gleichgewicht auswirken kann, und wie wir eventuell besser damit umgehen lernen können, um einer weiteren Spaltung in jedem einzelnen und der Gesellschaft konstruktiv zu begegnen.

Die Pandemie bedroht unsere tiefe Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Stabilität und Sicherheit

Wir haben als Mensch eine tiefe und von Geburt an angelegte Sehnsucht nach Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit: Nur wenn diese Sehnsucht durch unsere Bezugspersonen (zunächst in aller Regel die Eltern) ausreichend erfüllt wird, können wir uns stabil und gesund entwickeln, uns quasi Schritt für Schritt und guten Mutes in die Welt begeben, da wir früh gelernt haben, dass wir sicher und behütet sind.

Dieser Sehnsucht steht allerdings immer auch die Angst vor dem Verlust von Stabilität, Verlässlichkeit und Sicherheit entgegen. Diese Urangst beschreibt Fritz Riemann in seinem Klassiker „Grundformen der Angst“ als die Angst vor Veränderung und damit als eine von vier grundlegenden Ängsten, die alle Menschen teilen. (Riemann, Fritz: Grundformen der Angst, 42. Auflage, München 2017).

Ich denke, dass diese Urangst vor Veränderung durch die aktuelle Pandemie (unbewusst) getriggert wird. Riemann beschreibt in etwas blumigen Worten, was dies auslösen kann: „Dann greift der Schauder der Vergänglichkeit nach uns, und wir werden uns erschreckend unserer Vergänglichkeit bewusst, unserer Zeitlichkeit.“ (ebenda, S. 122).

Bedrohungen von tiefen Sehnsüchten lösen Urängste aus. Diese sind psychisch kaum zu ertragen und müssen dann verdrängt werden

COVID-19 bedroht aber nicht nur die Stabilität unseres alltäglichen Lebens (Freizeit, Beruf, Familienleben etc.), sondern ist auch potenziell lebensbedrohlich – je nach Risikogruppe mehr oder weniger. Insofern löst COVID-19 in vielen Menschen vermutlich auch Todesangst aus.

Solche Ängste sind für die allermeisten Menschen bewusst nur sehr schwer oder gar nicht zu ertragen. Je weniger resilient die Psyche eines Menschen ist, desto weniger lässt sich dies ertragen: Wurde die Sehnsucht nach Sicherheit, Stabilität und Verlässlichkeit bspw. von Geburt an nicht ausreichend erfüllt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Angst vor Veränderung im Erwachsenenalter für diesen Menschen größer ist und die Psyche stärker unter Stress gerät.

Dies ist sicher ein Grund, warum Menschen so unterschiedlich und mehr oder weniger ängstlich auf die objektive Bedrohung durch das Virus oder die Gegenmaßnahmen reagieren.

Ein weiterer Grund liegt in unserer Psyche und wie diese mit unangenehmen Gefühlen wie starken Ängsten umgehen kann, um sie für uns erträglich oder erst gar nicht erlebbar zu machen: Diese Mechanismen werden auch als psychische Abwehrmechanismen bezeichnet. Ein paar mögliche Beispiele im Kontext von COVID-19:

  • Verleugnung: Corona gibt es doch gar nicht!
  • Rationalisierung: Die Wahrscheinlichkeit, an Corona zu sterben ist für mich sehr gering
  • Regression (Rückfall in kindliche Verhaltensmuster): Die Erwartung, dass „der Staat“ alles regeln soll, Abgabe jeglicher Verantwortung
  • Projektion: Alleine die Ungeimpften sind Schuld und müssen daher bekämpft werden
  • Spaltung: Die aktuelle Lage hat nichts mit mir zu tun, sondern es liegt an Staatsversagen/Geimpften/Ungeimpften

Die Beispiele machen hoffentlich deutlich, dass diese Reaktionen und Gedanken dazu dienen können (nicht müssen!), die eigene Angst vor oder auch Verantwortung für und Auseinandersetzung mit der Realität (bspw. eine Erkrankung) „wegzumachen“. Dass es sich dabei um einen Abwehrmechanismus (im Gegensatz zu einem bewussten Standpunkt) handelt, ist oft daran zu erkennen, dass die Reaktionen in dieser Hinsicht mehr oder wenig ähnlich und unflexibel sind. Die Person ist also oft nicht in der Lage, differenziert oder psychisch flexibel zu reagieren und andere Ansichten zu sehen, sehen zu wollen oder gar zu akzeptieren, sondern erscheint festgefahren und unzugänglich.

All dies läuft unbewusst ab, d.h. der einzelne ist sich überhaupt nicht bewusst, dass er mit seiner Reaktion in erster Linie eine unangenehme Emotion oder einen inneren Konflikt abwehrt, um dies nicht zu spüren. Spricht man jemanden darauf an, stößt man „bestenfalls“ auf Verständnislosigkeit, oftmals auch auf aggressives oder ignorantes Verhalten.

Zu viel psychische Verdrängung steht einem bewussten und erfüllten Leben im Weg

So gut und wichtig diese Abwehrmechanismen für unsere psychische und emotionale Stabilität sind, so schädlich können sie langfristig und im Übermaß angewendet werden.

Und zwar für die Person selbst, da es immer mehr Energie und Kraft braucht, diese Abwehr aufrecht zu erhalten. Diese Energie steht für ein bewusstes und erfülltes Leben dann nicht mehr zur Verfügung, was sich dann in Interessenlosigkeit, Antriebslosigkeit, Gedankenkreisen/Grübeln o.ä. äußern kann.

Oft wird es auch im sozialen Umfeld schwierig, da die mangelnde Flexibilität und das fehlende Verständnis für andere soziale Interaktion erschweren. Dies kann zu sozialer Isolation führen.

Die Pandemie ist auch ein Katalysator für psychische Konflikte und Themen, die wir ohnehin in uns tragen und bearbeiten sollten

Psychodynamisch gesehen kann die Pandemie also auch ein Katalysator für viele psychische Konflikte und Themen, die wir ohnehin bereits in unserem „psychischen Keller“ mit uns herumtragen: Sie bringt schneller und deutlicher an die Oberfläche, was wir uns vermutlich sowieso einmal genauer anschauen sollten, wie bspw. Beziehungsprobleme, Umgang mit unserer eigenen Sterblichkeit, unsere Verbundenheit mit anderen und der Welt, Umgang mit Autoritäten usw.

Psychotherapie: Akzeptanz für sich und andere und bewusstes Handeln entwickeln

Spätestens wenn jemand beginnt, am eigenen oder dem Verhalten anderer zu leiden, sollte er/sie sich fragen, ob professionelle psychotherapeutische Unterstützung hilfreich sein könnte, bspw:

  • Ich halte es nicht mehr aus, dass sich Menschen nicht gegen COVID impfen lassen und ich treffe ungeimpfte Freunde nicht mehr
  • Die Bevormundung durch den Staat macht mich unglaublich wütend und ich bekomme Magenschmerzen
  • Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich Angst habe/mir Sorgen mache, dass ich/meine Eltern/Freunde an Corona erkranken/sterben
  • Ich treffe kaum noch Menschen, weil ich Angst vor Ansteckung habe
  • …..

In einer tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie geht es dann auch darum, zu verstehen, ob (und wenn ja, welche) inneren Konflikte und unangenehmen Gefühle eventuell durch das eigene Verhalten und Gedanken abgewehrt werden.

Sind diese Mechanismen entdeckt, und damit die zugrundeliegenden Gefühle und Konflikte bewusst gemacht, geht es darum, diese zu akzeptieren. Erst die Akzeptanz macht im nächsten Schritt eine Veränderung und einen flexiblen Umgang mit unangenehmen Gedanken und Gefühlen möglich. Oder anders gesagt: solange ich – in welcher Form auch immer – gegen diese unangenehmen Dinge innerlich ankämpfe (sie also wegmachen will) wird es langfristig selten besser werden.

Ziel einer tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie ist es also vor allem, durch das Erkennen, die Akzeptanz und Integration von unangenehmen Gefühlen und Konflikten, die bisher unbewusst dem aktuellen Verhalten zugrunde liegen, die Flexibilität der eigenen Psyche und des eigenen Verhaltens zu erhöhen.

In einem Kartenspiel-Bild gesprochen: Bisher habe ich immer nur einige wenige Karten (Gefühle, Verhalten, Gedanken) auf der Hand gehabt und ausgespielt (die anderen waren mir nicht bewusst). Durch eine Psychotherapie haben ich erkannt und gelernt, dass ich noch viel mehr Karten auf der Hand haben kann, und ich das Spiel (mein Leben) viel flexibler, reicher und bewusster spielen kann.

Erst Respekt für sich selbst ermöglicht Respekt für andere

Ich bin überzeugt, dass ein erheblicher Teil der aktuellen Spaltung in der Gesellschaft und die Verhärtung der Standpunkte auf die hier kurz und auszugsweise beschriebenen Abwehrmechanismen zurückzuführen ist: Wir alle versuchen die mit der Pandemie verbunden unangenehmen und für viele existenziell bedrohlichen Gedanken und Gefühle irgendwie in den Griff zu bekommen. Ein Trick unserer Psyche sind Abwehrmechanismen, d.h. wir beschäftigen uns mit anderen Dingen, um die eigene Bedrohung emotional nicht spüren und uns mit ihr auseinandersetzen zu müssen.

Im Umkehrschluss bedeutet eine Beschäftigung mit sich selbst bspw. im Rahmen einer Psychotherapie, die eigenen Verstrickungen zu erkennen, mehr Respekt und Verständnis für sich selbst und damit andere zu entwickeln und schließlich Lösungen zu finden, die für alle Seiten akzeptabel sind.

Erkenne dich selbst.

Inschrift Orakel von Delphi

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